Positionspapier

Autorinnen: Karen Fleischhauer und Sandra Sulzer
Oktober 2022

Positionspapier zur Entwicklung der digitalen Sprachenlehre

Die ubiquitäre Präsenz der digitalen Welt lässt sich sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben nicht mehr wegdenken. Der vermehrte Einsatz von digitalen Medien und Tools stellt in der heutigen Zeit eine zum Teil unsichtbare, jedoch unentbehrliche Begleitung für unsere Kommunikation mit anderen Menschen dar. Diese Entwicklung spiegelt sich nicht nur in der Kommunikation, sondern auch im Fremdsprachenerwerb mit zunehmender Tendenz wider. Die Integration digitaler Tools in den Sprachenunterricht führte in den letzten zwei Jahren zu einer Weiterentwicklung der Medienkompetenz und brachte viele Veränderungen für Lehrende und Lernende mit sich. Aufgrund des akuten Bedarfs an schnellen Lösungen wurden meist vorhandene Tools, ohne vorherige Abwägung der Vor- und Nachteile, genutzt. Zudem fehlte die Zeit, um diese neuen Entwicklungen und damit verbundene Veränderungen zu reflektieren. Für die zukünftige Gestaltung des digitalen Sprachenunterrichts gilt es nun, diese Tools zu verstehen und ihren Einsatz verantwortungsvoll und sinnvoll zu gestalten (siehe Fredholm 2019; Ducar & Schocket 2018). Wir müssen uns bewusst(er) mit ihrer Nutzung auseinandersetzen und als Lehrende und Lernende reflektierte(re) und im weiteren Sinne bewusste(re) Entscheidungen zu Lern- und Lehrwegen treffen. Außerdem gilt es zu reflektieren und zu überlegen, wie digitales und analoges Sprachenlernen einander ergänzen können.

Das Hauptziel unserer Arbeit am Zentrum für digitales Sprachenlernen am Sprachenzentrum (ZediS) ist die ausdrückliche Förderung eines offenen Dialogs zum Umgang mit den Themen Digitalisierung, Mediendidaktik und der nachhaltigen Verwendung digitaler Tools beim Sprachenlernen und -lehren. Dabei ist es uns wichtig, die digitalen Tools kritisch, jedoch konstruktiv zu bewerten, und die damit einhergehende Empfehlung zum Umgang transparenter zu machen.

Digitales Sprachenlernen an der Universität

  • Durch digitale Medien bzw. asynchrone Anteile in der Lehre haben wir die Möglichkeit, den Lernenden mehr Individualität hinsichtlich des Lernortes, der Lernzeit, des Lerntempos, der Wahl der Lerninhalte und Lernziele einzuräumen. Dies kommt besonders heterogenen Lerngruppen zugute, sodass sich die Lernenden ihren Bedürfnissen entsprechend mit dem Sprachenlernen auseinandersetzen können (vgl. Würffel 2019: 123; Boeckmann 2020: 11).
  • Ein maßvoller Einsatz von digitalen Tools (z.B. Sprachlernprogramme, Apps, Übersetzungsprogramme usw.) kann den Unterricht bereichern, während der Einsatz zu vieler digitaler Komponenten bei Lernenden zu einer Übersättigung führen kann. Hier muss Qualität vor Quantität gestellt werden.
  • Digitales Sprachenlernen führt neben seinem eigentlichen Zweck in der Regel auch zur Förderung der Medienkompetenz der Lernenden.
  • Digitale Selbstlernangebote können von Lernenden ergänzend zum Unterricht im (digitalen) Unterrichtsraum oder zum alleinigen Lernen einer Sprache genutzt werden. Bei der Verwendung außerhalb des Sprachenunterrichts fehlt (meist) die Möglichkeit zum Austausch zwischen den Lernenden, und motivierende Anregungen durch die Lehrenden sind nicht vorhanden (vgl. Boeckmann et al. 2020: 11).
  • Viele Sprachenlernsoftwareprogramme sind auf allgemeinsprachliches Lernen ausgerichtet und gehen nicht gezielt auf das wissenschafts- und fachsprachliche Umfeld der Studierenden ein.

Digitale Sprachenlehre an der Universität

  • Für Lehrende bedeutet der digitale Unterricht eine Veränderung ihrer Lehrpraxis, denn sie müssen neben ihrer fachlichen und didaktischen Expertise auch noch digital interaktive Elemente in den Unterricht einbauen und dafür fundierte Kenntnisse im Umgang mit den digitalen Medien haben (vgl. Murphy 2015: 54-56). Zusätzlich bringt der Online-Unterricht eine „hohe kommunikativ-interaktive Komplexität“ (Boeckmann et al. 2020: 10) mit sich, weil Lehrende gleichzeitig mehrere Kommunikationskanäle (Chat, Videoübertragung, Handzeichen) im Blick behalten und mediendidaktische Aspekte beachten müssen. Aus diesem Grund ist es notwendig, sich laufend und kritisch mit der Thematik zu befassen, sich auszutauschen und dahingehend weiterzubilden, um die erworbenen Kenntnisse aufrechtzuerhalten (vgl. Bridle 2019: 12).
  • Es ist notwendig, dass Lehrende eine Routine im Umgang mit den digitalen Tools entwickeln, denn erst mit einem entwickelten Automatismus können sie die Kommunikationsmöglichkeiten besser im Blick behalten und sich im Unterricht gezielter auf die Lernenden statt auf die Technik konzentrieren (vgl. Boeckmann et al. 2020: 42-43). Zur Entwicklung dieser Routine kann ein Ausprobieren und Üben in Form von kollaborativer Zusammenarbeit zwischen Lehrenden genutzt werden. Die Lehrenden trainieren dadurch gemeinsam nicht nur den Umgang mit den Tools, sondern kommen auch in den Austausch und können dadurch neue kreative Ideen entwickeln (vgl. Fleischhauer et al. 2021: 40).
  • Eine gewinnbringende Sprachenlehre im digitalen Raum hängt nicht nur von den mediendidaktischen Fähigkeiten der Lehrkraft ab, sondern auch von der technischen Ausstattung der Lernenden. Die Verwendung einer Webcam und eines funktionierenden Headsets gehören zusammen mit einer stabilen Internetverbindung zu den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um ein angenehmes Arbeitsumfeld und eine gut funktionierende Kommunikation zu ermöglichen (vgl. Fleischhauer et al. 2021: 36; Boeckmann et al. 2020: 42).

Mediendidaktik in der universitären Sprachenlehre

  • Mediendidaktik bedeutet nicht, dass man analoge Unterlagen eins zu eins auf digitale Tools überträgt, sondern den digitalen Unterricht in Hinblick auf das Sprachenlernen, -lehren und -prüfen neu denkt, z.B. in Form von Lehr-Lernkonzepten wie Inverted Classroom und Blended-Learning oder digitalen Projekten und durch den Einsatz von interaktiven Videos oder Open-Book-Klausuren (vgl. Schmidt 2020: 254; Gruber 2020: 197). Die Verwendung digitaler Tools sollte einen Mehrwert sowohl beim Lernen als auch beim Lehren mit sich bringen.
  • Dabei dürfen digitale Tools nur dann als Mehrwert gesehen werden, wenn durch sie ergänzende „Möglichkeiten ausgeschöpft werden, also Unterrichtssequenzen stattfinden, die mit konventionellen Medien nicht hätten umgesetzt werden können und Vorteile für den Lernprozess oder umfassendere Kommunikationsmöglichkeiten für die Lernenden bieten“ (Boeckmann et al. 2020: 15).
  • Ein Vorteil des digitalen Sprachenunterrichts bzw. des Einbezugs digitaler Tools in den Präsenzunterricht ist die Möglichkeit, spontan auf vorhandene, ggf. auch nicht pädagogisch aufbereitete Unterrichtsmaterialien, wie Videos, Bilder, Nachrichtentexte usw. zugreifen zu können und dadurch auf einfachem Wege ein handlungsorientiertes, realitätsnahes und pragmatisches Lehren und Lernen zu ermöglichen. Diese Form der Einbindung kann bei den Lernenden dazu führen, dass sie die alternativen digitalen Lernmöglichkeiten auch außerhalb des Unterrichts nutzen.

Herausforderungen in der Digitalisierung des Sprachenunterrichts

  • Trotz der Tatsache, dass wir immer mehr technische Möglichkeiten haben, kann der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in naher Zukunft Sprachlehrkräfte nicht ersetzen, denn eine KI kann weder das Gefühl von kulturellen Einblicken vermitteln, noch ist es möglich, zur KI eine persönliche Bindung aufzubauen (vgl. Kwok 2015: 159-160).
  • Nutzen Lernende KI-gesteuerte Tools wie den Google Übersetzer und DeepL bei der Übersetzung von Texten in anderen Sprachen, kommt es häufig zu unterschiedlichen Fehlern. Während orthografische und morphosyntaktische Fehler seltener vorkommen, sind besonders im Bereich Idiomatik und Lexik Fehler vorhanden, da die KI kulturelle Spezifika und Kontextbezogenheit nicht entsprechend einbringen kann (vgl. Roche 2019: o.A.).
  • Die KI kann zwar anhand von Ergebnissen erkennen, ob eine Aufgabe richtig oder falsch gelöst wurde, sie kann aber häufig keine spontanen Erklärungen liefern und gezielt auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden eingehen (vgl. Kwok 2015: 158). Zudem werden mithilfe von KI nicht alle Fehler erkannt. Weiterhin fehlen ausreichend fachsprachliche Beispiele in den online verfügbaren Korpora, sodass fachspezifisches Feedback häufig nicht realisierbar ist.
  • Bei vielen Selbstlernangeboten wird das Lernen von Algorithmen und nicht dem aktuellen Bedarf der Lernenden entsprechend bestimmt. Es können nur die Themen bearbeitet werden, die dem Programm bekannt sind, was dazu führt, dass die Zielgruppe ggf. nicht entsprechend gefördert wird (vgl. Kwok 2015: 160). Es ist deswegen notwendig, vor der Verwendung von solchen Angeboten sich kritisch mit den Inhalten und der Umsetzung auseinanderzusetzen.
  • Viele Selbstlernprogramme sind auf dem aktuellen Stand meist statischer Natur, was dazu führt, dass sie bei der Korrektur von Aufgaben nur vorgegebene Ergebnisse kennen und alternative Lösungen nicht akzeptieren.
  • Zu beachten ist innerhalb der EU, dass Apps, Sprachlernsoftware oder andere digitale Tools oft nicht den Vorgaben der EU hinsichtlich ihrer DSGVO-Konformität entsprechen.

Nachhaltiger Medieneinsatz

  • Der Erwerb neuer Medien bringt vielfältige Möglichkeiten für einen interaktiven Unterricht mit sich, allerdings sollte der Kauf neuer Hardware und Software gut überlegt sein und nur bei konzeptueller Notwendigkeit bzw. konkreten konzeptionellen Zielen erfolgen. Aufgrund von Ressourcenknappheit und „sozial-ökologischen Effekten der Produktion, Nutzung und Entsorgung von Medientechnologien“ (Kannengießer 2022: 79) sollten neuangeschaffte Medien intensiv verwendet werden, um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten.
  • Es reicht nicht aus, neue Hard- und Software zu erwerben: Sie muss von Lehrenden und Lernenden hinsichtlich der technischen Verwendung und der nachvollziehbaren sprachdidaktischen Einsatzmöglichkeiten verstanden und erprobt werden, damit ein gezielter langfristiger Einsatz erfolgen kann.
  • Digitale Tools sollten in Hinblick auf den dafür notwendigen Energieverbrauch (und die damit verbundene Ressourcennutzung) bedacht eingesetzt werden, denn nicht immer ist die Nutzung einer App erforderlich – häufig sind klassische analoge Methoden im Präsenzunterricht sinnvoller.

Fazit und Ausblick

Der Einsatz digitaler Tools ist aus der Sprachenlehre nicht mehr wegzudenken, denn dadurch wird den Lernenden eine große Flexibilität beim Lernen ermöglicht. Digitale Tools bringen in vielen Bereichen einen spezifischen Mehrwert mit sich, jedoch ist ein gezielter Einsatz notwendig, bei dem der Mehrwert gegenüber der analogen Variante klar werden muss.

Digitale Tools zum Sprachenlernen werden häufig genutzt, und es gibt in vielen Bereichen der digitalen Sprachenlehre (vor allem an Universitäten) noch Forschungsbedarf, um zu ermitteln, wie, wo, warum und wann digitale Tools das Sprachenlehren und –lernen gegenüber dem rein analogen Lernen verbessern können. So müsste u.a. noch untersucht werden, unter welchen Bedingungen Lernende, in diesem Fall Studierende und somit Digital Natives, Sprachenlehre in Präsenz oder online bevorzugen. Zusätzlich gilt es herauszufinden, warum Lernende digitale Tools nutzen und aus welchem Grund sie sich für bestimmte Tools entscheiden (vgl. Jolley & Maimone 2022: 30). Erste Studien dazu liefern noch keine eindeutigen Ergebnisse dazu, welche Faktoren darauf Einfluss nehmen. Wenige Informationen gibt es bisher auch zu den affektiven und kognitiven Faktoren beim Sprachenlernen und den Einfluss von Übersetzungstools auf die Sprachenlehre (vgl. Jolley & Maimone 2022: 31). Konkret heißt das, dass das Forschungsfeld noch viele Lücken aufweist, die es in den nächsten Jahren zu füllen gilt.

Literatur:

Boeckmann, Klaus-Börge; Hopp, Carina; Linhofer, Susanne; Teufel, Martin & Vogl, Heiko (2020): „Dann drückst du auf OK…“. Ergebnisse einer Studie zum digitalen Distanzunterricht für Deutsch als Zweitsprache. Graz: Pädagogische Hochschule Steiermark, online: https://www.pedocs.de/volltexte/2020/20303/pdf/Boeckmann_et_al_2020_Dann_drueckst_du.pdf (wird in neuem Tab geöffnet), Stand: 31.08.2022.

Bridle, James (2018): New dark age. Technology and the end of the future. London: Verso Books.

Ducar, Cynthia, & Schocket, Deborah H. (2018): Machine translation and the L2 classroom. Pedagogical solutions for making peace with Google translate, in: Foreign Language Annals, 51(4), S. 779-795.

Fleischhauer, Karen; Pertoft, Karin; Stolarczyk, Barbara & Sulzer, Sandra (2021): Von Lehrkraft zu Lehrkraft: Erfolgreich in der Online-Lehre, in: Fremdsprachen und Hochschule 97, zum Thema: „Das Online-Semester – Digitalisierung der Fremdsprachenlehre an Hochschulen“, S. 31-50.

Fredholm, Kent (2014): Effects of online translation on morphosyntactic and lexical-pragmatic accuracy in essay writing in Spanish as a foreign language, in: Jager, Sake; Bradley, Linda; Meima, Estelle J. & Thouësny, Sylvie (Hrsg.): CALL Design: Principles and Practice. Proceedings of the 2014 EUROCALL Conference. Groningen: ERIC, S. 96-101.

Gruber, Alice (2020): Die Förderung mündlicher Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht mithilfe von interaktiven Videos und Virtual Reality, in: Kasper, Kai; Hofhues, Sandra; Schmeinck, Daniela; Becker-Mrotzek, Michael & König, Johannes (Hrsg.): Bildung, Schule, Digitalisierung. Münster u.a.: Waxmann, S. 197-202.

Jolley, Jason R. & Maimone, Luciane (2022): Thirty Years of Machine Translation in Language Teaching and Learning. A Review of the Literature, in: L2 Journal, 14(1), S. 26-44.

Kannengießer, Susanne (2022): Digitale Medien und Nachhaltigkeit. Medienpraktiken für ein gutes Leben. Bremen: Springer VS.

Kwok, Virginia H.Y. (2015): Robot vs. Human Teacher: Instruction in the Digital Age for ESL Learners, in: English Language Teaching, 8(7), S. 157-163.

Murphy, Linda (2015): Online Language Teaching. The Learner’s Perspective, in: Hampel, Regine & Stickler, Ursula (Hrsg.): Developing Online Language Teaching. Research-Based Pedagogies and Reflective Practices. London: Palgrave Macmillian, S. 45–62.

Roche, Jörg (2019): Interkulturelle Sprachdidaktik, in: Roche, Jörg: Sprachen lehren. Kompendium DaF/DaZ 5. Tübingen: Narr Francke Attempto, o.A.

Schmidt, Rebekka (2020): Lehre digital umstrukturieren und neu denken – ein Praxisbeispiel, in: Kasper, Kai; Hofhues, Sandra; Schmeinck, Daniela; Becker-Mrotzek, Michael & König, Johannes (Hrsg.): Bildung, Schule, Digitalisierung. Münster u.a.: Waxmann, S. 253-258.

Würffel, Nicola (2020): Differenzierung fördern mit digitalen Medien. Neue und weniger neue Ansätze für den Einsatz digitaler Medien im DaF/DaZ-Unterricht, in: Peyer, Elisabeth; Studer, Thomas & Thonhauser, Ingo (Hrsg.): IDT 2017. Hauptvorträge, Band 1. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 123-139.